5 Liechtenauer Wörter – Das Indes

Ein Turniergefecht ohne Indes

Alex hat in diesem Turnier etliche Gefechte bestritten. Sein Körper und auch sein Geist sind abgekämpft. Zwei schnelle Schritte zurück. Ein kurzer Schritt nach vorne. Beide Fechter halten die Distanz, zögern gekonnt den ersten Kontakt hinaus. Dann, ich halte gebannt den Atem an, Alex setzt einen weiten Schritt nach vorne. Mir wird klar: Das ist der entscheidende Moment, welcher den Ausgang des Gefechts bestimmen wird. Alex packt all seine verbliebene Energie in einem rasanten Oberhau.

Ich bin begeistert von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Ich habe Alex schon öfter auf Turnieren beobachtet. Er ist Mittte Zwanzig, hat viel Zeit, Energie und Konzentration in die Entwicklung seiner körperlichen Fähigkeiten gesteckt und eine Schnelligkeit in seinen fechterischen Bewegungen entwickelt, von der ich nur mehr träumen kann.

Sein Hieb trifft. Der seines Kontrahenten, der gleichzeitig mit ihm gestartet war, auch.

Doppeltreffer. Eine Sache die Alex leider immer wieder passiert. Der Kampfleiter erklärt das Gefecht für beendet. Beide Fechter haben verloren. Wenn in einem Gefecht mehr Doppeltreffer gesetzt werden als gültige Treffer, dann gilt der Kampf nach österreichischem Regelwerk als ungültig. So kann man sogar noch im Finale aus einem Turnier ausscheiden.

Alex nimmt seine Maske ab und ich sehe die Enttäuschung auf seinem Gesicht. Er hat viel Vorbereitung in das Turnier gesetzt, seine Erwartungen an sich selbst sind hoch gewesen. In einem anderen Regelwerk, bei dem der Erstangreifende bevorzugt wird, hätte der Punkt und damit der Sieg vielleicht ihm gehört, denke ich mir.

Ich nehme mir vor ihn noch vor seiner Abfahrt abzufangen und ein paar tröstende Worte zu finden. Hoffentlich, denke ich mir, ergibt sich auch die Möglichkeit ein paar Worte über das Indes zu wechseln, denn ich glaube das könnte ihm helfen.

Widersprüchliches zum Indes in den Fechtbüchern?

In allen Fechtbüchern nach dem Liechtenauer System, von der Nürnberger Handschrift von 1389 bis hin zu Joachim Meyer von 1570, nimmt das Indes eine zentrale Rolle ein. Es sei in allen Stücken die du trainierst (vgl. Jude Lew 35v). Fechter, die davon nicht wissen, werden getroffen oder „verschnitten“, wie die damaligen Fechtmeister schreiben, und das Indes sei der Schlüssel, der die Kunst des Fechtens aufschließt.

Nun ist Bewegung für das Fechten essenziell. Fechten ohne Bewegung unvorstellbar. Bewegung ist aber etwas anderes als Sprache. Mit Sprache kann man über Bewegung reden, auf sie verweisen und Ideen sowie Konzepte über Bewegung vermitteln: Hilfestellungen geben, ein Trainingssystem vermitteln, sich Austauschen, den Lernprozess steuern.

Für uns ist es immer wieder spannend was die Fechtmeister in ihren Schriften – sozusagen aus ihrem Grab heraus – über ihre Bewegungen und ihr Trainingssystem mitteilen. Eine Hilfestellung aus längst vergangener Zeit. Eine Hilfestellung die, wie ich oft merke, auch für Verwirrung sorgen kann. Auch im Beispiel des Indes, da die Fechtmeister sehr unterschiedliche Dinge darüber sagen:

Fechtbuchstellen

„Vnd das wort „indes“ ist och der schlissele, damit alle kunst des fechtens vffgeschlossen wirt.“

(Sigmund Ringeck | MS-Dresden-C487 | 1504 – 1519 | 39r)

„Wenn du die dinck recht vernympst / und verstest / und dar zuo deß worcz Inndeß nicht vergist / In allen stucken die du treibest / So pistu wol ein gueter maister deß swercz / und magst wol lernen fürsten / und herzen daß sy mit rechter gunst deß swercz wol mügen besten / In kampff / und in ernst“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 11v)

„Daß fulen lere Inndeß daß wort schneidet sere / Glosa / Merck daßs fülen / und daß wort / Inndeß die gröst / und die pöst kunst im swert ist / und wer ein maister deß swercz ist oder sein wil / und kan nicht daß fülen / und vernympt nicht dar zu daß wort / Inndeß / So ist er nicht ein maister / wenn er [29r] ist ein püffel deß swercz / Dar umb soltu die zwai ding vor allen sachen gar wol lernen daß du si recht verstest.“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 28v)

„Hie soltu mercken / Daß daß fülen / und daß wort / Inndeß ein dinck ist / und ainß an daß ander nicht gesein mag / und daß vernym also wenn du Im an sein swert pindest / So müstu ze hant mit dem wort / Inndeß fülen / ab er am swert waich oder hor hert ist /“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 28v)

„Hie merck waß da haist daß vor  Daß ist daß du albeg solt vor komen eß sey mit dem haw oder mit dem stich / ee wenn er / und wenn du ee kumpst mit dem haw oder süst daß er dir vor seczen müeß / So arbait / Inndeß behendich In der versaczung für dich mit dem swert / oder sünst mit anderen stucken / So mag er zuo kainen arbait komen.“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 12r)

„Hye merck waß da haist daß nach Daß nach daß sind die pruch wider alle stuck / und häw die man auff dich treibt / und daß vernym also / wenn er ee kumpt mit dem haw / wenn du daß du im verseczen muest / So arbait Inndeß mit deiner vorsaczung behendlich mit dem swert zuo der nagsten plösß / So prichstu ym sein vor mit deinem nach.“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 12r)

„Das wort Indes get of dy woerter / Vor noch den wen eyner den vorslag tuet / und iener den weret / Indes und dy weile das in iener weret und sich schuetzt zo mag deser wol czu dem nochslag* komen / Auch get is of dy woerter swach stark / dy do bedewten / daz fuelen / den wen eyner an dem swerte ist / mit ieme und fuelet ab iener stark ader swach ist /“

(Nürnberger Handschrift | GNM-3227a | 1389 | 64r)

*Bitte sich der Bedeutung des Nachschlages in der Nürnberger Handschrift bewusst werden: Der Folgehau der nach dem Vorschlag folgt wenn mein Gegenüber sich geschützt hat

„Vor / Gleich / Nach / und Indes / welcher brauch dir nit ein geringer behilff im Fechten sein wirt. Das Vor wirt genenet so du den Mann mit deinem Hauwen am ersten angriffen / und ferner dahin treibest das er zu seinem fürnemen oder stuck nicht kommen kann / sonder mit versetzen sich engsten muß / damit er sich vor dir beschützen möge. Das Gleich ist / wenn beide du und dein gegenpart eines sins zugleich mit einander ewer häw volbringet / welches auch im wort Indes verfast ist. Das Nach aber ist / wenn du von deinem gegenman wie oben angezeigt ubereilet würst / das du dein fürnemen nicht magst volbringen / ist also zwischen dem Vor unnd Nach ein stetes ab [25r] wechseln und verenderung / den jetzo bald dein gegenpart / bald wider du / dasselbig bekommest. Welcher aber das Nach hat / das ist / dahin getrungen / das er jmmer versetzen muß / sol des worts Indes wol eingedenck sein / und dessen nicht vergessen / dann dardurch muß er das Vor wider ereilen / will er anderst ohn schaden abziehen / wer aber darauff achtung nicht gibt / ob er sich schon hefftig brauchet / wirt er doch nimmer etwas guts lernen Fechten.“

(Joachim Meyer | Gruendtliche-Beschreibung-der-Kunst-des-Fechtens | 1570 | 24v)

„/ Merck / wenn du gegen ym stest in der huot vom tag / So haw ym kunlich oben ein zuo dem kopff springt er denn auß dem haw / und maint er wöll vor kümen mit dem twer haw / und slecht dir do mit zuo deiner lincken seitten zuo dem kopff / So val ym mit der langen schneid auff daß swert / Slecht er denn mit [19v] der twer aber umb dir zuo der anderen seitten / So kum du Indeß vor auch mit der twer vorne fur under seinen swert im an den halß / So slecht er sich selber mit deinem swert“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 19r)

„/ Glosa / Merck die abseczen die treib also / wenn du mit dem zu fechten zuo Im kumpst / Stelt er sich denn gegen dir alß er dich woll stechen / So secz den lincken fueß vor / und stee gegen Im in der huot deß phluegß von deiner rechten seitten / und gib dich ploß mit der lincken seitten / Sticht er dir denn zuo der selbigen plösß / So wind mit dem swert auff dein lincke seitten gegen seinem stich die kurcz schneid an sein swert / und secz da mit ab / und schreit do mit zuo mit dem rechten füesß / und stich Im / Inndeß zu dem gesicht oder zuo der prust“

(Peter von Danzig | Codex-44.A.8-Rome-Version | 1452 | 30v)

Uns als Betrachter der damaligen Schriften ergeben sich mehrere Möglichkeiten mit Widersprüchen in dem gesagten Umzugehen.

Möglichkeit 1 – Sie meinen Unterschiedliches

Die Fechtmeister sagen unterschiedliche Dinge, also müssen sie auch unterschieldiche Dinge gemeint haben. Das Gesprochene ist unterschiedlich, daher muss auch die Bewegung, die Idee, das Konzept unterschiedlich sein. Die Fechtmeister widersprechen sich unserer Meinung (manchmal sogar selbst). Jeder hat seine eigene Interpretation der Liechtenauer Lehre.
Bsp: Aussage der Fechtmeister: „Indes und Fühlen ist ein Ding.“ & „Indes und Fühlen sind zwei Ding“. Unser Verständnis: Im ersten Beispiel scheint die Meinung vertreten zu werden, dass das Fühlen und das Indes ein und dasselbe und untrennbar sind. Im zweiten Beispiel scheinen sie klar von einander getrennt zu sein.

Möglichkeit 2 – Sie meinen das Gleiche

Die zweite Möglichkeit: Meinen sie das selbe? Die Fechtmeister sagen unterschiedliche Dinge, trotzdem könnten sie auf das selbe Bewegunskonzept verweisen. Das Gesprochene ist unterschiedlich, aber grundsätzlich wären sich die Fechtmeister einig, verwenden aber jeder eigene Worte, um über ein an sich gleiches Bewegungs- und Fechtkonzept zu sprechen.
Bsp: Aussage der Fechtmeister: „Indes und Fühlen ist ein Ding.“ & „Indes und Fühlen sind zwei Ding“. Unser Verständnis: Beide vertreten die Meinung das Indes und Fühlen zusammengehören. Sie sind zwei Begriffe und Konzepte mit eigenem Namen, die theoretisch getrennt, aber in der Realität zusammen auftreten und untrennbar sind.

Einfacher Vorschlag: Indes bedeutet gleichzeitig.

Was nun folgt ist mein Vorschlag, wie das Indes zu verstehen ist. Ein Interpretationsansatz, die sehr bewusst zur zweiten Möglichkeit mit Widersprüchen umzugehen tendiert: Die Fechtmeister meinen das selbe, auch wenn sie Unterschiedliches geschrieben haben. Als Basis für die Interpretation dient die in frühneuchochdeutschen und auch heutigen Wörterbüchern zu findende Wortbedeutung von indes.

Für uns ist Wortbedeutung Nummer 1 relevant: Gleichzeitig an den Gegner angepasst handeln. Ein einfaches theoretisches Konzept, das hilft eine komplexe Situation zu ordnen und zu verstehen. Um es effizient und sicher, zur rechten Zeit in der rechten Distanz mit der rechten Bewegung in der Praxis anwenden zu können, benötigt es aber viel Training und Erfahrung. Was ausbleibt ist die Suche nach einer geheimen Botschaft im Wort Indes. Komplexe verworrene, versteckte und geheime Ideen bleiben unnötig… Das Fechten ist komplex genug, die Konzepte um es zu erklären versuchen möglichst einfach und verständlich zu bleiben.

Als Ausgangspunkt für diese Überlegungen diente oben bereits angeführte Quelle aus der Nürnberger Handschrift 64r: Indes geht auf Vor und Nach sowie auf Hart und Weich. Das Indes kann als Verbindungsglied zwischen den gegensätzlichen Paaren „Vor & Nach“ sowie „Hart & Weich“ verstanden werden. Eine Anordnung nach der Würfel 5 erschien uns bei einem Trainergespräch aus mehreren Gründen sinnvoll:

  • Die zwei Begriffspaare „Vor&Nach“ sowie „Hart&Weich“ werden sinnvoll gegliedert dargestellt.
  • Indes nimmt eine zentrale Rolle ein und steht für sich alleine als Bindeglied zwischen ihnen.
  • Die Anordnung der Würfel 5 ist einprägsam und leicht zu merken. 

Es war sehr verlockend zusätzlich die Distanzklassen Zufechten und Krieg sowie Fühlen und Sehen (Visuelle und Haptische Wahrnehmung) in die Grafik mit einzubauen. So ergibt sich ein Überblick über die zwei ersten unterschiedlichen Phasen des Gefechts.

Download:

Was (noch) abgeht ist eine Weiterführung zum Armringen und Leibringen, eventuell dem Abzug. Hier könnte man noch erweitern, für Ideen wäre ich sehr dankbar.

Eine Argumentationen das Indes ausschließlich NUR AUF das Fühlen zu beziehen ist für mich – da ich  unterschiedliche (meist 16) Quellen zum Liechtenauer System quervergleiche – zu kurz gedacht. Eine solche Sichtweise erweist sich meiner Erfahrung nach als verwirrend und auch als widersprüchlich zu mehreren Fechtbuchstellen. Ich verstehe die Überlegung dahinter, habe aber für meine Interpretation des Liechtenauer Systems beschlossen, das Indes auf visuelle und haptische Wahrnehmung ausgedehnt zu betrachten.

Ein verbindendes Konzept über 600 Jahre Liechtenauer Lehre

Indes wird somit zu einem Konzept das Wahrnehmung (visuell und haptisch) sowie die schnelle Entscheidung auf Grund dieser Wahrnehmungen in das Zentrum der Kunst stellt. Ist dies der Schlüssel zur wahren Kunst? Oder ist es doch vielmehr Kraft und Geschwindigkeit, die entscheidet?

Ich gehe von ersterem aus und schließe mich den Aussagen der anderen in der Liechtenauer Tradition stehenden Fechtmeister an. So wird das Indes für mich ein verbindendes Element über 600 Jahre Liechtenauer Fecht- und Trainingssystem von 1389 Nürnberger Handschrift bis zur heutigen Zeit ist. Besonders interessant ist zu lesen was Joachim Meyer zu Vor Nach und Indes schreibt: Bei ihm ist Indes auch stellvertretend dafür ein „scharpff gesicht“ (Scharfes Gesicht) zu haben und viel wahrzunehmen:

„Also ermanet dich das wörtlein Indes / das du ein scharpff gesicht habest / welches zumal vil ersehen und warnemen / auch an deines gegenmans geberde gnugsam erlernen mögest / was für stuck er zu gebrauchen im sinn habe / und was dieselbige für Blösse mit sich bringen / und wo sie sich eröffnen werden. Dann in disen dingen allen welcher dich das wörtlein Indes ermanet / stehetalle kunst des Fechten (wie Lichtenawer sagt) unnd wo du solches nit warnimst / bedacht und fürsichtig alle Häuw führest / wirst leichtlich zu deinem schaden anlauffen / wie dann an allen Fechteren zusehen / welche einen also uberpolderen und (wie man sagt) oben aus und nirgent an wollen.“

(Joachim Meyer | Gruendtliche-Beschreibung-der-Kunst-des-Fechtens | 1570 | 24v)

Indes steht für Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Bewusstsein der Situation und der Möglichkeiten. Für ihn ist Indes nicht nur das gleichzeitige Handeln mit dem Gegner sondern auch ein Bewusstsein, das ein solches Handeln erst möglich macht.

Interessant auch was mein Vater, der persönlich mit Fechten nur über meine Erzählungen zu tun hat, im Winter 2010, nachdem er die Dokumentation „Schüler einer vergessenen Kunst“ gesehen hat in einem Mail über Indes geschrieben hat:

„Besonders hat es mir der Aspekt des ‚Indes‘ angetan. Indes die Gitarre klingt, handle ich, und Indes ich handle klingt die Gitarre. So sind wir beide durch unser Sein in der Gegenwart miteinander verbunden. Auch wenn wir miteinander kämpfen sollten. Vergangenheit und Zukunft gibt es Indes nicht – dies sind ohnehin (nur) gedankliche Konstrukte unseres Geistes und in der wirklichen Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Indes ist das fortschreitende Kontinuum des Augenblicks, des HIER und JETZT. Indes ist der Fokus auf mein Sein in der wahren Wirklichkeit. Indes ich die Wirklichkeit – den Anderen – handelnd erlebe, handle ich.
Andere sagen ZEN dazu 🙂 Aber das soll uns nicht stören. Asien hat das Recht auf Erleuchtung nicht für sich allein gepachtet. 🙂 Ich könnte mir vorstellen, dass die Übung des Indes auch manchem Ritter dieselbe Art von ‚Erleuchtung‘ gebracht hat.“

Hans Kohlweiss Mail 2010

Er schlägt hier eine Brücke von der Fechtlehre hin zu allgemeinen philosophischen Gedanken.
Mir gefällt es wenn Prinzipien aus dem Fechten allgemeingültig werden.

Spannend bleibt, wie man das Indes praktiziert, im Training aber auch im Alltag. Ich wünsche euch viel Erfolg dabei und bin auf Erfahrungsberichte sowie Fragen gespannt.

Gerne in den Kommentaren posten oder mir per eine Mail schreiben:
ingulf@hematics.net